# Kapitel 1: Das Ultimatum

Das Telefon klingelte um 6:47 Uhr morgens. Dr. Elena Richter griff nach dem Gerät, noch bevor sie vollständig wach war. Die Nummer auf dem Display ließ sie sofort aufschrecken - SpaceX-Zentrale, direkter Anschluss des CEO.

"Richter hier."

"Elena, hier ist Müller. Notfalltreffen in einer Stunde. Alle Abteilungsleiter, keine Ausnahmen." Die Stimme von CEO Thomas Müller klang angespannt, fast panisch.

"Was ist passiert? Ist es wegen der Radtests gestern?"

"Darüber sprechen wir vor Ort. Eine Stunde, Elena. Nicht später."

Die Verbindung wurde unterbrochen. Elena starrte das Telefon an. In ihren fünfzehn Jahren bei SpaceX hatte sie Müller noch nie so aufgebracht erlebt. Nicht einmal nach der gescheiterten Falcon-Heavy-Mission vor drei Jahren.

Sie sprang aus dem Bett und griff nach ihrer Arbeitskleidung. Während sie sich anzog, liefen ihre Gedanken zu den gestrigen Experimenten. Das Rad - diese simple, aber revolutionäre Erfindung - hatte bereits erste Tests in ihrer Abteilung durchlaufen. Die Ergebnisse waren vielversprechend gewesen. Zu vielversprechend vielleicht.

Der Verkehr nach Hawthorne war um diese Uhrzeit noch erträglich. Elena fuhr durch die leeren Straßen und dachte an die Ironie ihrer Situation. Hier war sie, eine der führenden Raumfahrtingenieurinnen der Welt, und beschäftigte sich mit einer Technologie, die ihre Vorfahren hätten vor Jahrtausenden entwickeln sollen. Stattdessen hatten sie Raketen gebaut, die Menschen zum Mars brachten, während sie ihre Lasten mühsam auf Schlitten transportierten.

Das SpaceX-Gebäude ragte vor ihr auf. Die silberne Fassade reflektierte das frühe Morgenlicht. Elena parkte ihren Tesla - ein weiteres Beispiel für die verkehrte Welt, in der sie lebten. Elektroautos ohne Räder, die auf Magnetschienen durch die Städte glitten.

Im Aufzug begegnete sie Dr. Marcus Weber, dem Leiter der Antriebstechnik. Sein Gesicht war grau vor Sorge.

"Hast du eine Ahnung, worum es geht?" fragte er.

"Das Rad", antwortete Elena knapp.

Marcus nickte düster. "Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Berechnungen, die mein Team gestern durchgeführt hat... Elena, wenn das stimmt, was wir da entdeckt haben..."

Der Aufzug öffnete sich im zwölften Stock. Der Konferenzraum war bereits zur Hälfte gefüllt. Elena erkannte die Gesichter der anderen Abteilungsleiter - alle wirkten angespannt. Dr. Sarah Chen von der Materialforschung saß am Fenster und starrte hinaus auf die Startrampen. Ingenieur Pavel Novak von der Missionskontrolle tippte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

Müller betrat den Raum um punkt acht Uhr. Der CEO war ein großer Mann mit graumeliertem Haar und normalerweise ruhiger Ausstrahlung. Heute jedoch bewegte er sich wie ein Raubtier im Käfig.

"Setzen Sie sich alle", begann er ohne Begrüßung. "Was ich Ihnen jetzt mitteile, verlässt diesen Raum nicht. Verstanden?"

Nicken ringsum.

Müller aktivierte den großen Bildschirm an der Wand. Diagramme und Berechnungen erschienen - Elenas eigene Arbeit von gestern.

"Dr. Richter hat gestern die ersten umfassenden Tests mit der Radtechnologie durchgeführt", sagte Müller. "Die Ergebnisse sind... problematisch."

Elena runzelte die Stirn. Problematisch? Die Tests waren ein voller Erfolg gewesen.

"Das Rad", fuhr Müller fort, "ist nicht nur eine simple Transportverbesserung. Es ist ein Paradigmenwechsel. Dr. Chen, Ihre Analyse der Materialbelastung?"

Sarah Chen räusperte sich. "Die Effizienzsteigerung ist dramatisch. Wenn wir Räder in unsere Bodentransportsysteme integrieren, reduziert sich der Energieaufwand um 89 Prozent. Die Reibungsverluste sind praktisch vernachlässigbar."

"Dr. Weber, Ihre Berechnungen für die Startsequenzen?"

Marcus Weber sah elend aus. "Wenn wir radbasierte Transportsysteme für den Raketentransport zur Startrampe verwenden, können wir die Vorbereitungszeit um 73 Prozent verkürzen. Die Präzision beim Positionieren steigt um das Zwölffache."

Elena begann zu verstehen, worauf Müller hinauswollte. Die Zahlen waren zu gut. Zu revolutionär.

"Pavel, die Auswirkungen auf unsere Marsmissionen?"

Novak blätterte in seinen Unterlagen. "Wenn wir radbasierte Rover entwickeln, anstatt die aktuellen Gleitschienen-Systeme zu verwenden, könnten wir die Erkundungsreichweite um das Fünfzigfache erweitern. Die Energieeffizienz auf der Marsoberfläche würde sich um 94 Prozent verbessern."

Müller nickte grimm. "Genau das ist das Problem. Diese Technologie macht alles obsolet, woran wir in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet haben."

Elena spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. "Thomas, das ist doch fantastisch. Wir können unsere gesamte Technologie revolutionieren."

"Können wir das?" Müllers Stimme wurde scharf. "Elena, denken Sie an die Realität. Wir haben Milliarden in die Entwicklung von Magnetschienen-Transportsystemen investiert. Unsere gesamte Infrastruktur basiert darauf. Unsere Verträge mit der NASA, mit der ESA, mit privaten Kunden - alle basieren auf der aktuellen Technologie."

"Aber die Verbesserungen..."

"Die Verbesserungen würden uns ruinieren", unterbrach Müller sie. "Wenn wir zugeben, dass eine simple Erfindung wie das Rad unsere gesamte Technologie überholt macht, verlieren wir jede Glaubwürdigkeit. Unsere Aktionäre würden uns verklagen. Unsere Konkurrenten würden uns auslachen."

Elena stand auf. "Das ist Wahnsinn. Wir sprechen hier über den größten technologischen Durchbruch seit der Erfindung der Raketentriebwerke."

"Wir sprechen über das Ende von SpaceX, wie wir es kennen", erwiderte Müller kalt.

Dr. Chen meldete sich zu Wort. "Thomas, vielleicht könnten wir die Technologie langsam einführen. Schritt für Schritt."

"Unmöglich. Die Medien haben bereits Wind von der Raderfindung bekommen. Sobald die ersten Vergleichstests öffentlich werden, ist unser Ruf ruiniert. Warum sollte jemand Millionen für einen Magnetschienen-Transport zahlen, wenn ein radbasiertes System für einen Bruchteil der Kosten das Zehnfache leistet?"

Elena ballte die Fäuste. "Also was schlagen Sie vor? Dass wir die Forschung einstellen? Dass wir so tun, als hätten wir das Rad nie erfunden?"

"Genau das", sagte Müller. "Effektiv sofort werden alle Transportmissionen zum Mars gestoppt. Alle Projekte, die mit Bodentransport zu tun haben, werden eingefroren. Wir konzentrieren uns auf das, was wir am besten können - Raketentechnologie."

"Das ist Selbstmord", protestierte Elena. "Die anderen Raumfahrtunternehmen werden nicht so reagieren. Blue Origin, Virgin Galactic - sie werden die Radtechnologie übernehmen und uns überholen."

"Dann müssen wir schneller sein als sie", antwortete Müller. "Wir müssen die Radforschung kontrollieren oder eliminieren."

Die Stille im Raum war erdrückend. Elena sah in die Gesichter ihrer Kollegen. Angst, Verwirrung, Resignation.

"Thomas", sagte sie langsam, "Sie machen einen Fehler. Das Rad ist nicht unser Feind. Es ist unser größter Verbündeter."

"Erklären Sie das."

Elena ging zum Bildschirm und begann, die Diagramme zu verändern. "Schauen Sie sich diese Zahlen anders an. Ja, das Rad macht unsere aktuellen Transportsysteme obsolet. Aber es eröffnet völlig neue Möglichkeiten."

Sie zeichnete schnell eine Skizze. "Stellen Sie sich vor, wir entwickeln radbasierte Raumfahrzeuge. Fahrzeuge, die auf der Erdoberfläche rollen können, aber auch für den Weltraum geeignet sind."

"Das ist unmöglich", warf Weber ein. "Die strukturellen Anforderungen..."

"Sind lösbar", unterbrach Elena ihn. "Wir haben bereits Materialien entwickelt, die sowohl im Vakuum als auch unter atmosphärischen Bedingungen funktionieren. Das Rad gibt uns die Möglichkeit, wirklich vielseitige Fahrzeuge zu bauen."

Sie zeichnete weiter. "Denken Sie an die Marsmissionen. Anstatt separate Systeme für Transport, Landung und Oberflächenerkundung zu entwickeln, könnten wir alles in einem Fahrzeug vereinen. Ein Raumschiff, das auf dem Mars landen und dann als Rover fungieren kann."

Müller betrachtete die Skizze skeptisch. "Das klingt nach Science Fiction."

"Vor einem Jahr klang das Rad nach Science Fiction", erwiderte Elena. "Aber hier sind wir."

Sie drehte sich zu ihren Kollegen um. "Sarah, Ihre Materialien könnten Räder schaffen, die sowohl bei minus 200 Grad im Weltraum als auch bei plus 60 Grad auf der Marsoberfläche funktionieren. Marcus, Ihre Antriebssysteme könnten in radbasierte Fahrzeuge integriert werden. Pavel, stellen Sie sich die Missionsmöglichkeiten vor."

Novak nickte langsam. "Die Flexibilität wäre unglaublich. Wir könnten Missionen planen, die bisher undenkbar waren."

"Träumereien", sagte Müller scharf. "Wir haben keine Zeit für Experimente. Die Konkurrenz schläft nicht."

"Dann geben Sie mir Zeit", sagte Elena. "Lassen Sie mich beweisen, dass es funktioniert."

"Elena..."

"48 Stunden", unterbrach sie ihn. "Geben Sie mir 48 Stunden, um einen funktionsfähigen Prototyp zu entwickeln. Ein radbasiertes Fahrzeug, das sowohl auf der Erde als auch im Weltraum operieren kann."

Müller lachte bitter. "48 Stunden? Elena, wir brauchen normalerweise Jahre für solche Entwicklungen."

"Normalerweise haben wir nicht das Rad", antwortete sie. "Die Grundprinzipien sind bereits da. Ich brauche nur Zeit, sie zu kombinieren."

Sie sah ihm direkt in die Augen. "Wenn ich scheitere, stellen Sie die Radforschung ein. Aber wenn ich Erfolg habe, revolutionieren wir die Raumfahrt, anstatt uns von ihr revolutionieren zu lassen."

Die anderen Abteilungsleiter sahen zwischen Elena und Müller hin und her. Die Spannung im Raum war greifbar.

Müller ging zum Fenster und blickte hinaus auf die Startrampen. Dort standen drei Falcon-Heavy-Raketen, bereit für die nächsten Marsmissionen. Missionen, die jetzt auf Eis gelegt werden sollten.

"Sie haben keine Ahnung, was Sie da vorschlagen", sagte er schließlich. "Ein radbasiertes Raumfahrzeug zu entwickeln... das ist nicht nur eine technische Herausforderung. Es ist ein kompletter Neuanfang."

"Manchmal ist ein Neuanfang genau das, was man braucht", erwiderte Elena.

Müller drehte sich um. Sein Gesicht war eine Maske der Anspannung. "Die Investoren werden nicht verstehen. Die NASA wird Fragen stellen. Die Medien werden uns zerfleischen, wenn wir scheitern."

"Und sie werden uns feiern, wenn wir Erfolg haben", sagte Elena.

Lange Stille. Elena spürte, wie ihr Herz hämmerte. Alles hing von diesem Moment ab. Die Zukunft der Radforschung, die Zukunft von SpaceX, vielleicht sogar die Zukunft der Raumfahrt selbst.

Müller sah auf seine Uhr. "Es ist jetzt 8:23 Uhr am Montagmorgen."

Elena nickte.

"Sie haben bis 8:23 Uhr am Mittwochmorgen. 48 Stunden exakt." Seine Stimme war eisig. "Wenn Sie bis dahin keinen funktionsfähigen Prototyp eines radbasierten Raumfahrzeugs vorlegen können, wird SpaceX alle Investitionen in die Radforschung einstellen."

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